Rezension zu:

Mütter, Bernd: Die Entstehung der Geschichtsdidaktik als Wissenschaftsdisziplin in der Epoche der Weltkriege.
Oldenburger Schriften zur Geschichtswissenschaft. Band 14.
BIS-Verlag der Carl-von-Ossietzky Universität Oldenburg. Oldenburg 2013. 379 S.; 26,80 Euro.


Nur wenige haben verstanden, welche Bedeutung die geisteswissenschaftliche Geschichtsdidaktik, die an der Universität Göttingen nach dem Ersten Weltkrieg entwickelt und nach dem zweiten von Erich Weniger wirkungsvoll vertreten wurde, für den Geschichtsunterricht, darüber hinaus aber auch für die Pädagogik im Allgemeinen und die Lehrerbildung im Besonderen gehabt hat. Mit ihr gelang die Etablierung einer eigenständigen historischen und zugleich philosophischen Disziplin - nach dem Entwurf Wilhelm Diltheys im ausgehenden 19. Jahrhundert.
Ihm ist damit etwas Ähnliches gelungen wie Friedrich Carl von Savigny mit seiner Begründung der Rechtswissenschaft. Mütter, selbst einer der erfolgreichsten Geschichtsdidaktiker der letzten Jahrzehnte und bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2003 an der Universität Oldenburg tätig, hat bereits früher auf den Zusammenhang hingewiesen, ihn aber nun noch einmal systematisch und kritisch dargestellt.
Das Buch ist ein wesentlicher Beitrag zu der Historischen Bildungsforschung, die in letzter Zeit an Bedeutung gewonnen, sich aber dabei mehr um empirisch gut zugängliche als um hermeneutisch schwierig zu erfassende Gegenstände gekümmert hat. Der Autor begreift die ‚Epoche der Weltkriege' wissenschaftshistorisch trotz der Gegensätzlichkeit von Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Bundesrepublik Deutschland als Einheit, ohne sein Befremden darüber zu verbergen, dass der Historiker Karl Brandi und die Pädagogen Herman Nohl und Weniger an ihrem Konzept auch unter politischen Umständen festhielten, die aus heutiger Sicht Anlass zum Umdenken hätten geben müssen. Die genannte Epoche ist identisch mit der der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik, die zum ersten Mal nach dem Tode Nohls 1960 und dem Wenigers 1961 im Titel einer Gedenkschrift erwähnt wurde (vgl. Dahmer/ W. Klafki: Geisteswissenschaftliche Pädagogik am Ausgang ihrer Epoche - Erich Weniger. Weinheim 1968).
Dass der rein geisteswissenschaftliche Ansatz der deutschen Geschichtsdidaktik, der durch das Hinzutreten der sozialwissenschaftlichen Dimension schon Ende der 1960er Jahre fragwürdig wurde, heute vor allem im Hinblick auf die internationale Entwicklung gänzlich obsolet geworden ist, wie der Autor schreibt, darf seiner Ansicht nach nicht verdrängen, welche Bedeutung das Konzept für die schnelle Erneuerung des Geschichtsunterrichts in Westdeutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte (vgl. Weniger, E.: Neue Wege im Geschichtsunterricht. Frankfurt am Main 1949). Und die "Erfolge der modernen Geschichtsdidaktik seit 1970" sind, wie er ausdrücklich feststellt, ohne den betreffenden Ansatz "gar nicht vorstellbar" (Mütter 2013, S. 322).
Gerade weil in der Auseinandersetzung zwischen den alten Ansprüchen des Geschichtsunterrichts und den neuen der Politischen Bildung (durch Sozial- bzw. Gemeinschaftskunde) das Ziel einer historischen Bildung für einige Zeit aus dem Blick geraten ist, sollte man Mütter dafür dankbar sein, dass er daran erinnert, womit diese Intention theoretisch so begründet wurde, dass sie - in politisch unruhiger Zeit - praktisch erfolgreich verfolgt werden konnte.
Dietrich Hoffmann
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Prof. em. Dr. Dietrich Hoffmann
Hainholzweg 18
37085 Göttingen

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